Der Name Marco Hassler steht für Standardwerke zum Thema Webanalytics. Hierzu publiziert er in mehreren Auflagen seit mehr als 10 Jahren. Nun hat Marco Hassler ein topaktuelles Buch vorgelegt: Von Data-driven zu People-based Marketing. Der Untertitel verrät auch schon den aktuellen Anlass dieses Buches: Erfolgreiche Digital Marketing Strategien in einer Privacy First Ära.
Webanalysten haben es dieser Tage schwer. Ihre Datengrundlage erodiert auf Grund der Datenschutzbestimmungen. Proaktive Zustimmung zum Tracking lässt die statistische Basis der Reports bröckeln. Ein zweiter Anlass besteht in der Kritik des Autors an der klassischen Ausformung von Marketing-Kampagnen. Data-driven heißt, es werden “Klicks oder im besten Falle Konversionen” (S. 11) gemessen und der Erfolg auf “bunten Dashboards dargestellt”. Solche Kampagnen haben mehr oder weniger große Streuverluste – und unternehmensinterne Strukturen lassen sie im schlimmsten Falle sogar kontraproduktiv wirksam werden. Es ist endgültig Zeit für ein One-to-One oder People-based Marketing.
Drei Entwicklungsschübe wirken dabei zusammen: Customer Centricity, datenbasierte Nutzerprofile und Marketing Automation (S.16). Entsprechend enthält das Buch zunächst drei Teile: Customer Centricity – Daten – Technologien, um in einem letzten Teil die einzelnen Elemente zusammenzuführen.
Customer Centricity – Kritik am Persona-Konzept
Häufig liest man die Empfehlung, Zielgruppen anhand von Personae zu realisieren. Allerdings sind solche Personae oft nur die Projektion des Wunschkunden aus der Unternehmensperspektive – die dann mit der Realität nicht unbedingt viel gemeinsam haben. Dagegen stellt Hassler das Personakonzept als ein Extrakt aus der Auseinandersetzung mit Gruppen aus echten Nutzern dar. Diese Auseinandersetzung geschieht unter verschiedenen Fragestellungen nach
- Auslösern, sich mit einem Produkt zu beschäftigen
- Barrieren, die sich dem Kauf entgegenstellen
- der Überlegungsphase (Customer Journey)
- den Entscheidungskriterien
Der Entscheidungsprozess wird nun verschiedenen Kanälen und Touchpoints zugeordnet, woraus sich dann eine Customer Journey Map entwickeln lässt. Ähnlich wie bei Pfadanalysen lassen sich bei Erhebung zahlreicher Profile nun gewisse “ausgetretene Strukturen” nachzeichnen. Das klassische CJ-Konzept gerät angesichts der heutigen Komplexität des Kundenverhaltens (gefördert durch eine permanente digitale Präsenz) an seine Grenzen: Eine Customer Journey ist heute ein multioptionales Geflecht aus Wegen und Schleifen.” (S.40) In diesem Geflecht überlagern sich Typen der Macro-Journeys (Bedarfsgerieben, Wert-bewusste Wahl, Abwägung und Evaluation, Markenloyalität) und Alltagsanforderungen (Ersatz oder Disruption) sowie Reflexionsintensität. People-based Marketing fokussiert letztlich den einzelnen Kunden, dessen Abwägungsprozess bis zur Konversion bestimmten Mustern der Macro-Journey-Matrix folgt. Bestimmte Kanäle (Touchpoints) sind nun für bestimmte Motivations-Phasen der Macro-Journey mehr oder weniger als zielfördernde Ansprache geeignet.
Im zweiten “Daten”-Teil geht es zunächst um altbekannte Methoden der Webanalyse. Dabei ordnet Hassler bestimmte Motivationsphasen und Macro-Journey-Etappen bestimmten, in den Webanalyse-Reports nachweisbaren, “Verhaltenssignalen” (S.97) zu. Ziel dieses Teils ist es aber, über die anonymisierten Webanalysedaten, Nutzerprofile zu erheben. Hassler listet hier die klassischen Techniken über Cookies, Browser-Fingerprints bis hin zu User-IDs auf. Letztlich lassen sich browser- und kanalübergreifende Identitäten nur mit Hilfe einer eindeutigen Identifizierung der User erlangen. (Lösung ausgewiesener Identitäten, S. 124). Aus der prozessualen Anreicherung der Nutzerprofile mit Daten entwickelt das Marketing einen so genannten Identity Graph. Es versteht sich, dass Nutzer auch hier ihre Einwilligung nicht umsonst geben; der Gewinnung von Nutzeridentitäten ist deshalb das letzte Kapitel des zweiten Teils gewidmet (den “Brand Garden entwickeln” S.153 ff).
Der dritte Teil ergänzt die beiden Sphären, die in den ersten beiden Teilen ihre Flügel ausspannten – technologisch. Hier wird der (zunächst) methodische Schritt zur Marketing-Aktivierung gegangen. Hierzu werden die Funktionen einer Customer Data Platform, (welche die Verhaltensdaten der User sammelt und verarbeitet S.178ff), der Data Management Platform, (welche die Daten über weitere Schnittstellen z.B. zu Demand Server Platforms) anreichert, und die Content Management Platform, (welche die Einwilligungen zur Datenverarbeitung einholt und dokumentiert) jeweils koordiniert. “Aus Technologie-Sicht sind es die Experience-Systeme der einzelnen Kanäle, die die Schnittstelle zum Nutzer bilden und damit über das Erlebnis am Touchpoint (eine) Reizauslösung initiieren können. … Da Nutzer …(unterschiedlich) …. reagieren, wird der Personalisierung eine wichtige Aufgabe zuteil.” S.186. Im Prinzip müssen diese Systeme “systemisch” alle wesentlichen Kanäle bedienen können, eine “regelbasierte Personalisierungslogik” leisten können und selbstverständlich “Nutzerdaten und Segmente” übernehmen und verarbeiten können.
Digital Marketing Automation
Der vierte Teil führt nun diese drei Sphären zu einem neuen “Marketing-Paradigma” zusammen. Dieses Paradigma (z.T. eher noch eine Wunschvorstellung) kennt keine separaten Kampagnen mehr (die ggf. noch von verschiedenen Abteilungen geplant, durchgeführt und ausgewertet werden). Die Customer Journey wird zu Micro-Moment Journeys, die an jedem Touchpoint zu jedem Motivationszustand die phasen-optimale personalisierte Experience auslöst. Diese so genannten Nurtures sind Trigger, die den User auf das nächste Erlebnis-Level hieven sollen. Bei Nurtures handelt es sich um “affinitäts-basierte Inhalts-Adaptierungen auf Motive von Nutzern.” (S.220) Dieses Konzept einer permanenten Rückkoppelung von Inhalten, Zielen und Motiven über alle Phasen der Macro-Journey hinweg, lässt sich nur noch mit Hilfe von Automatisierung und Systemen auf Basis maschinellen Lernens realisieren. Hier gibt Hassler interessante Hinweise darau, wie man sich solche Automatisierungsprozesse, mit Hilfe von Scoring bestimmter Attribute und Verarbeitung komplexer Bewegungsmuster, konfigurieren kann. Dass das letzte Kapitel die Erfolgsmessung thematisiert, versteht sich bei einem eingefleischten Webanalysten von selbst.
Fazit
Ich halte das Buch für äußerst lesenswert; es gibt viele hilfreiche Wegweisungen angesichts einer stark veränderten Landschaft des digitalen Marketing. Im Prinzip enthält es die Blaupause eines systemischen Marketingkonzeptes auf strikt digitalisierter Basis. Auch die Kritik an herkömmlichen unternehmerischen Marketing-Gewohnheiten halte ich nicht nur für durchaus gerechtfertigt; ich erachte sie darüber hinaus für einen hilfreichen Denkanstoß. Gewiss sind auch viele Inhalte bekannter Standard (Webanalyse, Incentives für Registrierungen); fehlten sie, würde das allerdings auch wieder Kritik hervorrufen. Die Lektüre des Buches kann ich empfehlen.
Zur Kritik: M.E. haben Theorie und Praxis in diesem Buch keine starken Haftungskräfte. Der Autor beschreibt die Prozesse und Systeme einerseits und die konkreten Fallbeispiele andererseits. Gewünscht hätte ich mir hier auch konkrete System-Anwendungsfälle, die über die reine User-Paradigmatik hinausgehen. So bleibt das Buch eher eine Theorie des People-Based Marketing mit schmückenden User-Fällen.
Zum anderen: Marco Hassler orientiert m.E. das Buch sehr stark am B2C Marketing. Persönliche Daten, unterstellte Intentionen – führen immer wieder zu Beispielen der privat-persönlichen Kaufabwägung. In Unternehmen basieren Entscheidungen primär nicht auf Käuferpsychologie, sondern auf diskursiven Prozessen zwischen unterschiedlichen Funktionsebenen. Interessant wäre es, herauszufinden, wie ein solches Konzept auch auf “juristische” Personen Anwendung finden kann.